Vom Wesen der Stoffe
Thomas Hirsch
Der Katalog, der im Jahr 2000 anläßlich der Ausstellung im Goethe-Institut Santiago de Chile entstanden ist, legte eine erste Bilanz des Werkes von Min-Seon Kim vor. Geboren 1966 in Seoul und nach dem Studium an der dortigen Hong-Ik Universität Absolventin der Kunstakademie Münster, hat Min-Seon Kim schon in der ersten Hälfte der neunziger Jahre zur eigenen Handschriftlichkeit gefunden. Kennzeichnend für diese Gemälde, die der Katalog von 2000 dokumentiert, ist die Fokussierung und schließlich Vereinzelung von Naturformen und Gegenständen. War zunächst noch ein Hintergrund gegeben, in den die Dinge - schon da übermächtig, teils in Konfrontation mit anderen Gegenständen - eingebettet oder dem sie vorgelagert waren, so wird dieser ab 1998/99 weiter abstrahiert und zurückgenommen, hin zu einer "reinen", in sich nuancierten Malerei. Er verleiht dem Gegenstand nach wie vor Stabilität und Standfestigkeit, läßt den Ort aber im Unklaren. Die Aufmerksamkeit gilt den Motiven. In ihrer ikonographischen Signifikanz und durch die Art der Präsentation - übergroß, fokussiert innerhalb der Darstellung, mit dieser im Format korrelierend, also in der Regel ohne Anschnitt, innerhalb einer Arbeit die An- und Einsicht wechselnd - sind ihnen dingmagische Aspekte eigen; sie bleiben geheimnisvoll und in ihrer Detailpräzision, dem verhalten Ausgewogenen zugleich klar. Aber schon der Umgang mit der Konturierung und der Formulierung des Schattens versteht sich unter malerischen und wahrnehmungsphysiologischen Gesichtspunkten, bei denen die innerbildliche Scheinrealität an Stelle einer Reproduktion tritt. Die Gegenstände selbst kennzeichnet eine auratische Verfaßtheit. Überwiegend handelt es sich um Motive, Formulierungen, welche sich direkt oder indirekt auf die ostasiatische Kultur beziehen lassen. Die zurückhaltende Farbgebung spricht hiervon weiter, die Nuancierung von Weißtönen, die Darstellung von Porzellan und die Verwendung von Goldtönen, die in feiner Zeichnung auf die Gefäße gesetzt sind und in Flüssigkeit minimal verschwimmen. Die kaum sichtbare Abstufung der Helligkeit hin zur (vermeintlichen) Farblosigkeit und die Dünnwandigkeit führt Min-Seon Kim weiter bis zur Vorstellung von Fragilität, aber auch Einzigartigkeit, Kostbarkeit. Opulenz geht hier mit konzentrierender Rücknahme, gewiß auch einem Gefühl von Großzügigkeit und von Leere einher. Die Zentrierung wird subtil relativiert; die Gegenstände sind leicht aus der Achse geschoben. Das Licht kommt von außen, hüllt die Darstellung in eine gleichmäßige Helligkeit. Kontemplation, Raum- und Zeitlosigkeit aber lassen sich für alle diese Bilder konstatieren. Wie aus einer eigenen Welt, fernab vom alltäglichen Geschehen, mögen die Eier, die Federn, die Gefäße mit den Fisch- und Drachendarstellungen anmuten; der goldene Stab, auf den weiße Handschuhe gelegt sind, welche auch als Umhüllung von (körperlichem) Volumen zu begreifen sind: ein Aspekt, der in den neueren Bildern dann weiter verstärkt wird. Narrative Strukturen klingen an, die Bedeutsamkeit eines Augenblickes scheint auf. Die Bilder mögen von zwischenmenschlichen Begegnungen berichten, belassen es aber bei der Andeutung und dem Denkbaren. Und die Gegenstände könnten selbst für Menschen und deren Befindlichkeit stehen, sie beschreiben Atmosphären, auf eine Weise, die mehr verinnerlicht denn entäußert. "Die Motive einer fremden Kultur drehen sich ... um allgemeinmenschliche Realität: Abschied, Wünsche, Sehnsüchte, das Ego", hat Carolin Ortner-Görtz treffend geschrieben (Rheinische Post, 18.4.01). Darin bleibt sich Min-Seon Kim auch bei den Arbeiten treu, die, in letzter Zeit entstanden, im vorliegenden Katalog zu sehen sind. Aber es treten neue Aspekte hinzu, in mancher Hinsicht geht Min-Seon Kim weiter, hat ihre bisherigen Bildauffassungen radikalisiert.
Aus dem Jahr 2001 stammen die Gemälde "Rangordnung" und "99 Jahre". Auch wenn die Werke von Min-Seon Kim stets als Einzelstücke entstehen, sie gerade jede Form seriellen Arbeitens vermeidet, sind diese Bilder doch dem gleichen Kontext zuzurechnen, geben einen ähnlichen Gegenstand mit analoger Struktur wieder, geschildert aus der Aufsicht beziehungsweise mit leichter Einsicht als Gegenüber, wobei ihnen infolge der Bildgröße Monumentalität eignet. Gleichwohl wirken die fernöstlichen Drachenmotive auf dem Teller und der Schale flüchtig - fast wie eine Erinnerung, die sich im gleichen Moment zeigt und wieder entzieht. Der Blick von oben ist leicht versetzt, gibt die Rundform dadurch als Oval wieder und weist doch mit der kreisenden Anordnung der Drachen auf die Ruhe- und Bewegungszustände von Yin und Yang, auch auf Kategorien des Unendlichen. Anfang und Ende folgen beständig aufeinander. Das Reptil mit den Überlagerungen der Schuppen, im Langgestreckten und seiner Bewegtheit, die im Zueinander von Kontraktion (Sich-Aufbäumen) und Ausdehnen erreicht wird, besitzt das Zarte fernöstlicher Tuschzeichnung. Das Porzellan ist bis an die Bildgrenzen herangeführt, das leichte Querformat nimmt den Gefäßen von ihrer Wucht. Die Farbpalette bleibt reduziert, konzentriert sich auf Weiß- und Blautöne, und ist doch unendlich reich in ihren Abstufungen, die über die Möglichkeiten der Lichtführung, Verschattung und Verdeckung hinausgehen und darin - und im Verweis auf die Symbolik der Farbtöne - Nähe und Ferne, Anwesenheit und Abwesenheit, Materialität und Immaterialität bezeichnen. Fläche und Raum finden sich gleichzeitig, wobei Min-Seon Kim die Wandung der Gefäße als breite und trennende Kontur formuliert. "99 Jahre" zeigt ein wechselseitiges Verhältnis von Innen und Außen, die Möglichkeit der Transparenz in die Schale hinein klingt hier an. Erscheinen und Verschwinden werden als Einheit vor Augen geführt; Behauptung und Möglichkeit sind umschrieben, wobei die rituelle Beschaffenheit des Gefäßes, seine Funktion und sein Gebrauch selbst nicht weiter erörtert werden. Die Arbeiten von Min-Seon Kim zeigen Formbeherrschung und Konzentration im Verweis auf gesellschaftliche und kulturelle Kontexte. Hier, wie in sämtlichen Gemälden von Min-Seon Kim, spielt der Titel als weitere Dimension hinein, er spricht Inhaltliches, oft zudem private Erinnerungen und Erlebnisse an - nie vergessend, daß es sich hier um Malerei und infolgedessen um gleichnishaften Ausdruck handelt. Eine andere Arbeit: "Sonnenaufgang" von 2001. Zuletzt beim Düsseldorfer Atelierrundgang ausgestellt, strahlte das Gelb dieser riesigen Arbeit wie das Schillern von Blütenstaub auf den Holzboden: die fundamentale Behauptung einer Farbe, die (hierin in der Nähe von Runges "Großem Morgen") gleichsam von einer Sonne oder einem sich öffnenden Blütenkelch ausgeht und doch einem funktionalen Gegenstand zuzuordnen ist und an religiösen Gebrauch erinnert, als gelbes Glas wie golden wirkt. Die Binnenstruktur läßt an Flammen, in der graphischen Klarheit ebenso an einen Glorienschein denken. Dann aber tritt ein Wechsel der Wahrnehmung ein: Der Innenboden wölbt sich als Halbkugel nach innen, umschürzt von den züngelnden Flammen. Das Gelb zeichnet sich zudem als Zacken außen auf der Ebene ab, in kristalliner Flächigkeit geradezu konträr zu den plastischen Tropfen der Wandung. Dem Genre des Stillebens - in einer zeitgenössischen Variante - zuzuordnen, tritt bei dieser Arbeit unmittelbar die metaphorische Anverwandlung ein: in hehrer Überhöhung, der existentielle Bedeutsamkeit innewohnt. Derartige Bildfindungen gehen bei Min-Seon Kim mehr und mehr mit einer Zurücknahme des umgebenden Grundes einher ohne diesen zunächst gänzlich zu eliminieren; in der Bevorzugung von Weißtönen nimmt die Feinheit in der Abstufung der Farbgründe zu. Der Gegenstand selbst wird als Volumen formuliert, schließlich als plastische Faktizität empfunden. Ein Beispiel hierfür ist das Bild "Betrunkener Kobold" (2001), bei dem der (vermeintlich monochrom) weiße Hintergrund nahezu verschwindet und dadurch die Form umso mehr - wie ausgeschnitten - konturiert und intensiv leuchten läßt. Die Gestalt aber, die in den Tüchern stecken könnte, bleibt vage, sie zeichnet sich in der Modellierung des Stoffgebildes als Geheimnis ab. Als gerundete Form vielleicht in einer Stellung des Kauerns oder, im Schlaf, sich zusammen ringelnd. In leichter Torsion begriffen, ordnen sich die Falten in fließendem Zueinander im stufenweisen Übereinander. Im Knoten, von dem alles Geschehen ausgeht, wird der Grad der Realistik noch gesteigert. Den hellblauen Stoff überzieht ein verschlungenes Rankenwerk, gebrochen durch die Faltungen mit den dunkleren Schattenlinien. Auch die Bedeutung der goldenen Lineaturen läßt sich letztlich nicht klären, verharrt in der symbolhaften Möglichkeit. Auf einer profaneren Sinnebene ließe sich an ein besticktes Samtkissen denken, in weiterer Befragung der Materialität.
All dies mündet in jüngster Zeit in die Rundbilder, mit denen Min-Seon Kim ihre bisherige Bevorzugung runder und gewölbter Formen weiter thematisiert, diese nun in Ausschließlichkeit zeigt und im Kontrast zur planen Wandfläche gibt. - Kennzeichnend bleibt die Gleichzeitigkeit der vermeintlichen Simulation von Realität und des dezidiert malerischen Eindrucks von Farben, Formen, Licht und Schatten. Weiterhin "Gefäße", sind die gerafften Stoffe verschlossen, die geradezu haptische, geschmeidige Materialität wird zugleich zu einer Art Haut. Die samtene Farbigkeit in Verbindung mit einem Muster oder bildhaften Darstellungen geht mit einer emblematischen Zeichenhaftigkeit einher, die indirekt Hinweise auf den umhüllten Gegenstand liefert. Insgesamt ist Min-Seon Kim hier der Pop-Art näher als jedem Verismus und bleibt doch unabhängig von Stilen, mit ihrer Malerei ganz in der Gegenwart angesiedelt. Unmittelbarkeit aber wird im besonderen mit den teils zurückgenommenen, teils leuchtenden Farbigkeit erreicht sowie aufgrund der Setzung der Falten, die in ihrer Symmetrie und bisweilen latenter Spiegelbildlichkeit freilich ebenso irrealen Charakter vermitteln. Auch hier bleibt alles geordnet und übersichtlich; Momente des Harmonischen überwiegen, beunruhigen mag allenfalls die Ungewißheit in Bezug auf den verhüllten, gleichermaßen präsenten wie abwesenden Gegenstand. Eine Arbeit wie "Potpourri", die sich dem Betrachter in der partiellen Draufsicht und organischen Ausdehnung geradezu entgegenschiebt, spielt in der Anordnung der Bänder, die sich unterhalb mehrerer Lagen fortzusetzen scheinen und an anderer Stelle wieder auftauchen, auf Farbkonstellationen von Länderfahnen an. Schon darin besitzt sie, formal plötzlich einem Globus ähnlich, assoziatives Potential. Jedoch löst Min-Seon Kim den Verlauf der Falten von Bild zu Bild verschieden; gewiß mag das Interesse an der fernöstlichen Ästhetik für Stoffe, Oberflächen und deren Faltung eine Rolle spielen, der Umgang mit Schatten und der Antagonismus von farblicher Besetzung und freibleibendem weißen Platz, der Aussparung. In Min-Seon Kims Bildern wird alles mit stillem Innehalten bedeutungsvoll. Gleichermaßen hermetisch wie zugänglich, in der Behauptung ihres So-Seins treten die Bilder dem Betrachter gegenüber und handeln von der Welt, in der wir uns bewegen, aus der wir Dinge herausgreifen, mit denen wir uns dann beschäftigen.