Präzision, Kontemplation und der dekorative Glanz
Manfred Schneckenburger
1876 malt Claude Monet seine Frau in einem seidenen Kimono mit prächtigen Stickereien. Kostbare Stoffe stehen mit am Anfang der Faszination europäischer Künstler durch ostasiatisches Kunsthandwerk. Dennoch entsteht ein impressionistisches Bild in östlicher Einkleidung: Japanisches als exotischer Dekor.
Ohne die junge Koreanerin der dünnen Gipfelluft des Klassikers auszusetzen - wenn Min-Seon Kim 125 Jahre später ähnliche Seidenstoffe wie Monumente zusammenballt, geht sie den umgekehrten Weg. Sie lernt an der Kunstakademie Münster die europäischen Fertigkeiten einer illusionistischen Malerei, die Monet und seine Freunde überwinden wollten. Sie bemalt Leinwände in westlicher Manier, aber sie bleibt Koreanerin. Sie gibt, anders als Monet, ihre heimische Darstellungsweise auf, aber sie bringt ihre Erinnerungen an den kostbaren Glanz fernöstlicher Gewebe und die schattenlosen weissen Tiefen, durch die der Tuschpinsel seine Spur zieht, mit sich vor den neuen Horizont. Ihre Bilder changieren zwischen einer präzisionistischen Feinmalerei, mit Wurzeln zurück bis zur Rennaissance, und koreanischen floralen Mustern, eingehüllt in den Atem östlicher Kontemplation. Diese Bilder vereinen das trompe líoeil westlicher Stilleben mit dem Reiz östlicher Ornamentik und den weissen Gründen der Tuschmalerei in einer fast traumwandlerischen Sicherheit des Zusammenklangs, was Zweifel an der beharrlichen Frage weckt, ob der ständige Blick nach Ost wie West den Bildern überhaupt gerecht wird. Denn Min-Seon Kim hat inzwischen ihre eigene Mitte gefunden. Fragen nach dem einen oder anderen Anteil bleiben letztlich im Akademischen stecken.
Wie auch immer, ich gebe der Verlockung des doppelten Blicks doch noch einmal nach.
Als Min-Seon Kim 1994 in Münster anfängt, braucht sie zunächst Zeit, um nach Korea zurück zu finden. In ihren frühen Stilleben inszeniert sie eine extrem nahsichtige surreale Objektwelt von spitzer, rotglühender Aggressivität. Einen sehr persönlichen magischen Realismus, der kaum auf die 20er Jahre zurückgreift, sondern von Min-Seon Kim neu erfunden wird.
Erst in den späten 90er Jahren macht sich wieder Ostasiatisches bemerkbar. Die Sujets: dünnwandige Porzellanschalen mit kobaltblauem Drachendekor, celadonglasierte Teller mit Fisch- und Vogelmotiven, deren Torsion oder Kurvenflug sich gleitend in das Kreisrund schwingen - Erbteil einer Jahrhunderte alten Tradition. Viel Weiss um überaus helle Drachenkämpfe. Eintauchen in die zartschalige Verletzlichkeit des Porzellans, knapp vor dem Erlöschen im weissen Fond.
Danach, im Laufe des Jahres 2001, kehrt Min-Seon Kim zu kräftigen Farben zurück. Sie malt Seidenstoffe mit goldenen Applikationen: Blumen, Blüten, Schmetterlinge... Nichts ist kopiert, alles mit großer Genauigkeit nachempfunden. Stoffballen, -bündel, -knotungen, -rollen stehen als Solitär vor purem Weiss. Schichtungen und Faltungen sind korrekt nach den Regeln des plastischen Scheins gebauscht und verkantet und könnten aus dem Bild eines altniederländischen Meisters stammen. Sie liegen jedoch nirgends auf, haben keinen Untergrund. Kein einziger Anhaltspunkt deutet ein Ambiente an. Nicht einmal Schatten weisen auf eine Umgebung hin. So wirken die Ballen, jenseits ihrer starken dreidimensionalen Präsenz, wie ortslos schwebende Erscheinungen auf der Suche nach ihrem Raum.
Die dekorative Monumentalität trumpft nicht auf, sondern geht, im Gegenteil, mit einem intimen Lyrismus einher. Die festliche Hervorhebung gibt jedem Solitär einen eigenen Charakter, eigenen Ausdruck, ob der nun sakrale Feierlichkeit oder wirbelnder Aufruhr ist: kunstvoll verschlungene Hüllen, die nichts ver- und enthüllen als sich selbst. Die jüngsten Bilder verzichten vollends auf den Fond. Der runde Ballen wird zum Kreis, Blickfeld und Bildfeld sind eins. Ein später Beitrag zum Bild als Objekt?
Jeder dieser Ballen ist beredt und führt seine eigene Zeichensprache vor. Jeder signalisiert seine Botschaft, die - mit ironischer Distanz oder poetischem Überschwang - in den Titeln sogar metaphorisch zugespitzt wird. Du bist min, ich bin din: das hochmittelalterliche Liebesgedicht über das verlorene Herzensschlüzzelin als unlöslicher Knoten, wie Yin und Yang. Vorfreude: ein violetter Ballen mit kostbarer Goldstickerei, der mit blühenden Bäumen den Frühling ankündigt. Der dreieckig auszipfelnde Überschlag liegt wie zum Aufrollen bereit. Geht es zu weit, hier Erwartung und heitere Entfaltung zu interpretieren? Umgekehrt der Geheimauftrag: dunkles Anthrazit, die Blütenmuster in sich verschlungen wie Dornengestrüpp, das dreieckige Endstück vom Ballen überlagert und beschwert - eine hermetische Inversion. Ich will dieses Spiel mit Analogien nicht überziehen, doch es pointiert, dass die Seidenstilleben ihre eigenen Sprachen besitzen. Sie sind lesbar - Projektionen erwünscht. Die Titel geben Richtungen vor.