ORNAMENTAL - Hugo Boguslawski, Min Clara Kim, Ivo Ringe - Städtische Galerie Lippstadt - 11.2.-27.3.2011

Einige Überlegungen als Einführung mögen den Begriff des Ornamentes zumindest streiflichtartig etwas näher bringen.

Ornament, das gleichartige, sich wiederholende, schmückende und betonende Muster (lat. ornare), diente auch der Ehrung und Auszeichnung (lat. ornamentum). Es tauchte auf Kleidung, Gebrauchsgegenständen und Bauwerken, sowohl in Okzident als auch im Orient auf. Es tritt in der Antike, im Frühmittelalter, z.B. als im keltischen Knotenflechtwerk oder im sogenannten Skandinavischen Germanischen Tierstil, in der Gotik im Maßwerk, im Renaissance-Buchschmuck und später auch besonders in der Arts and Crafts-Bewegung und im Jugendstil in Rankenwerk-Bordüren auf. Nicht zu vergessen seien auch die nord-, südamerikanischen und südostasiatischen bildlichen Zeugnisse. Afrikanische Ornamentmuster haben heute noch symbolische Bedeutung, z.B. für Herrschaft, Macht oder Reichtum. Auch steinzeitliche Funde zeigen schon Wellen- oder Fischgrätmuster, denen man ornamental-symbolische Funktion zuschrieb, aber möglicherweise auch eine numerisch-kalendarische. Die alleinige Deutung als Schmuck und Ehrenzeichen erfährt neuerdings eine Verschiebung. Aktuelle Sichtweisen vermuten hier existentiell bedeutsame neolithische Kulturerzeugnisse, die möglicherweise eine kalendarische Funktion hatten und mit Hilfe einer grafischen Methode die Darstellung von zyklischen Prozessen zur (jahres-)zeitlich-räumlichen Orientierung ermöglichten. Das würde bedeuten, dass ornamentale frühzeitliche Strukturen auf diese Weise existenziell wichtige Daten vermittelten und letztlich das Überleben der eigenen Gesellschaft sicherten.

Durch diese spekulative, aber äußerst interessante Position käme dem vor hundert Jahren polemisch geächteten Ornament

("Ornament ist vergeudete Arbeitskraft und dadurch vergeudete Gesundheit... Heute bedeutet es auch vergeudetes Material, und beides bedeutet vergeudetes Kapital... Der moderne Mensch, der Mensch mit den modernen Nerven, braucht das Ornament nicht, er verabscheut es." (Adolf Loos, Ornament und Verbrechen, 1908)
Im Jahr 1908 veröffentlicht Adolf Loos unter dem Titel "Ornament und Verbrechen" eine Streitschrift in Sachen moderner Architektur. Das Ornament sei überflüssiger, Kosten verursachender Zierrat, Ausdruck kultureller Rückständigkeit, wie sie sich bei Naturvölkern finde, und des modernen Menschen unwürdig. "Die barbarischen Zeiten" schließt der Architekt "sind endgültig vorbei".)

eine elementare, Wissen kommunizierende und auch eine Kultur erhaltende und stabilisierende Funktion zu.

 

Zumindest knüpft an diesem Punkt die letzt-jährige Wiener Ausstellung "Die Macht des Ornaments" der Kuratorin Sabine Vogel an: Ornament sei eine universale, elementare Bildsprache, die auf der ganzen Welt vorsprachliche Kommunikation über bestehende kulturelle Grenzen ermögliche und einen äußerst mächtigen Wirkungsfaktor darstelle. Dort gezeigte aktuelle künstlerische Positionen schafften es sogar, auf momentane gesellschaftliche Zustände einzugehen und eine reflektierte Kulturkritik zu üben. Festzustellen bleibt indes, dass die ornamentale Bildsprache als machtvolles, gesellschaftspolitisches Korrektiv eher überschätzt worden ist, wie das rasche Verglühen zahlreicher Spielarten psychedelischer Grafik und Malerei der 60er/70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, der Ausverkauf des Ethno-Stiles in Design und Kunstgewerbe und der unzähliger Werke der nicht arrivierten Graffiti-Sprayer-Szene dokumentieren, um einmal populäre Ornament-Derivate als Subgenre in der Alltagskultur beispielhaft anzuführen.
Interessant ist nun nicht, dass diese vermutlich archaisch geprägte Bildsprache sporadisch und zufällig wie ein Atavismus immer wieder auftaucht, sondern wahrnehmungspsychologisch betrachtet möglicherweise eine Zwischen- oder Sonderstellung einnimmt.

Das Ornament, angesiedelt zwischen den beiden Polen Abstraktion (als schematisch-formelhafte mediale Repräsentanz von Wirklichkeit) und Figuration (als das visuell-mimetische mediale Duplizieren von Wirklichkeit) speist sich aus beiden Quellen: Es gibt in ihm eine stilisierende Simplifizierung der erkennbaren Gegenstandswelt, deren Formensprache häufig in geometrisierender Manier zum leicht erfassbaren Repertoire heruntergebrochen wird. Im Extremfall geschieht dies bis zum nicht mehr dechiffrierbaren abstrakten Muster, welches wie ein formel- und zeichenhafter Rückzug von der sichtbaren Wirklichkeit wirkt. Dennoch schwingt immer neben der schematisierenden Vereinfachung auch die mimetische Anverwandlung der Gegenstandswelt, im Extremfall als ein nachäffendes Aufdoppeln von Wirklichkeit mit. Zudem tritt es in Reihung und Wiederholung auf und scheint als komplexes Gebilde ebenfalls zwischen den weiteren Polen Chaos und Ordnung zentriert: Zunächst verwirrend offenbart es seine innere Ordnung erst bei länger weilender Betrachtung, in einem Zustand von Versenkung. Ornamente haben auf die Aufmerksamkeit und Wahrnehmung eine eigenartig magische Wirkung.

Weiterhin typisch ist eine fortgesetzte Repetition des immer gleichen Zeichenkomplexes. Vereinfachung und Wiederholung sind zumindest aus lern- und wahrnehmungspsychologischer Sicht Garanten für höheren Lernerfolg und effektive Kommunikation. Aus einer Überfülle von Wahrnehmungsreizen lassen sich einfach strukturierte Muster eher herausfiltern und durch ständige Wiederholung leichter behalten. Nach Erkenntnissen der jüngeren Hirnforschung laufen - hier verkürzt dargestellt- in der linken Hirnhälfte vermehrt analytische, rationale und detailscharfe Denkprozesse, in der rechten intuitive, emotionale und synthetische, die sogenannten holistische Denkleistungen ab. Erst im Zusammenspiel beider Komponenten ist der Mensch zu effektivem Problem lösenden Handeln und zu kreativen Höchstleistungen befähigt.

Es ist anzunehmen, dass die Wahrnehmung eines Ornamentes möglicherweise somit Prozesse aus beiden Denkleistungszentren stimuliert und diese bestenfalls in ständiger Rückkopplung verschränkt. Um das Ornament zu erfassen, wechselt die Aufmerksamkeit dementsprechend oszillierend zwischen seiner Mikro- und Makro-Struktur, d.h. zwischen detailscharfem und holistischem Erfassen. Sind diese ornamentalen Strukturen gestalterisch zu komplex und treten zudem in starker Häufung auf, mögen sie in einer Art temporärer Reizüberflutung durch analytische Denkprozessen der linken Hirnhälfte rational geprägte Rezeptionsvorgänge erschweren. Die Ornamentstruktur ist als komplexes Gebilde scheinbar zwischen Chaos und Ordnung zentriert und scheint zudem besonders die Prozesse der rechten Hirnhälfte anzusprechen.
Vielleicht erklärt sich hierdurch die eigenartig magische Wirkung, die ornamentale Strukturen auf unsere Aufmerksamkeit und Wahrnehmung haben. Sich wiederholende Strukturen in kaum wahrnehmbarer Abwandlung, übrigens ein Kennzeichen der hypnotisch- repetitiven Minimalmusic der 1960/70er Jahre, kann bei eingehender, vertiefter Wahrnehmung in Analogie zu dieser Musik betrachtet, zu tranceartigen, meditativen Zuständen führen.
Dass es selbst in einer Kunst, die sich dem Ornament verschrieben hat, unterschiedliche Gewichtung von konstruierter und reduzierter Strenge, irritierender Fülle oder detaillierter Kostbarkeit mithin eine große Bandbreite von Ausprägung und mehr oder weniger strengen Spielarten gibt, mag Ihnen die Betrachtung der 3 Positionen dieser Ausstellung näher bringen.

Min Clara Kim, Ivo Ringe, Hugo Boguslawski - Ornamental Drei malerische Positionen, in denen die untrennbare Verflechtung von Fläche und Raum über das Ornamentale gelingt, zeigen, dass gerade der zumindest im letzten Jahrhundert unterschätzt bis geächtete "Zierrat" immer noch unausgeschöpfte Möglichkeiten der Bildfindung in sich birgt: zum eigentlichen Bildmotiv (Ivo Ringe) erhoben, als dezentrales Kompositionskonzept (Hugo Boguslawski) oder als bildliche Metapher (Min Clara Kim).
Min Clara Kim und Hugo Boguslawski, Meisterschüler und Absolventen der Kunstakademie Münster, sowie Ivo Ringe, Meisterschüler und Absolvent der Kunstakademie Düsseldorf, nutzen aus eben diesen unterschiedlichen Ansätzen das Ornamentale für die Erneuerung bildnerischer Strategien.

Min Clara Kim hat zunächst in ihrer Geburtsheimat Seoul/ Korea ein traditionelles Kunststudium abgeschlossen, bevor Sie darauf aufbauend sich im kompletten Zweit-Studium an der Kunstakademie Münster mit der westlichen Moderne bzw. Malereigeschichte auseinandergesetzt hat, um zu ihrer heutigen eigenen malerischen Position zu finden. Anknüpfend an das Genre der Stilllebenmalerei, in welchem sie die meditative und lyrische Stille asiatischer Tuschemalerei mit den illusionistisch-naturalistischen Errungenschaften europäischer Ölmalerei seit der Renaissance kombiniert, taucht ab etwa 2001 in ihren oft großformatigen Bildern ein zentraler Gegenstand auf. Stoffballen, Pakete oder gewundene Tücher, in sanfter und sensibler Licht- und Schatten- Modulierung in Gesamtkörper und Faltenwurf sind meist in einem weißen, schattenfreien und somit ortlosen Raum, von unbestimmter gleißend, jedoch schmerzfreier Lichtquelle erhellt, mittig platziert. Die Stoffe in bestimmten, gesättigten und ausgesucht sonoren Farbtönen sind mit einem floralen Ornament, meist goldockertonig, gänzlich überzogen. Deren durch Licht- und Schatten Darstellung verblüffend realistisch gegenständliche Präsenz erhält durch ihre Verortung im unbestimmten Irgendwo eine Beinote von magisch-realistischer Irritation, die durch die Titelgebung noch verstärkt wird. Titel bezeichnen durchweg nicht die dargestellten Gegenstände, sondern verweisen auf menschliche Gemütszustände, Verfassungen, Erlebnisse. Als bildreiche Begriffe verstärken sie die spürbare lyrische Gestimmtheit der Bildwerke aufs Höchste. Wohl ausgeklügelte Einfachheit ohne Spur von flacher Simplizität der Flächenkomposition, eine farbmächtige, zur Monochromie tendierende Präsenz der gewählten Töne und ein All-over des Ornamentes erinnern an die Errungenschaften vor allem der amerikanischen Abstraktion des letzten Jahrhunderts -Betonung von Flächigkeit und der Farbe als Material und autonome Wirkung durch shaped canvases, colourfield-painting und drippings- und befreien die Malerei von einem vermeintlich intendierten Bedeutungsballast. Akademisch geschulte illusionistische Feinmalerei setzt hingegen eine assoziative Anbindung an einen Orts-, Zeit- und Geschehenskontext beim Betrachter in Gang. Das Stoffornament bindet flächig-abstrahierende und räumlich-figurative Bildelemente in seinem rhizomatischen Lineament ambivalent zusammen: Einerseits folgt es der raum-illusionistischen Licht-Schatten-Modulation des Tuches, andererseits verlässt es den figurativen Kompositionszusammenhang, indem es selbst sich als abstrahiertes farbliches Geflecht und Gesprengsel innerhalb von überaus präsenter Farbfläche drangvoll ereignet. In ihm werden Bild-Fläche und Raumbild vertäut. Tuch des Motivs und das Tuch der Leinwand im übertragenen Sinn generieren durch den Akt des Verdeckens, Verpackens und Umhüllens erst den gemeinten und gleichzeitig im paradoxen Sinne signifikanten Bildinhalt, wobei erst Bildmotiv und Titel gemeinsam den im Innern des Betrachters wachsenden Inhalt als bildliche Metapher verankern. Die Vereinigung von östlicher Tradition und dem westlichen Erbe gepaart mit dem immer neu entfachbaren Konflikt zwischen Figuration und Abstraktion gelingt Min Clara Kim im Ornament als Hybridmethode, indem sie den widerstreitenden Ansprüchen von Narration und Epiphanie an die bildende Kunst durch die bildliche Metapher löst: Das Bild zeigt bescheiden, was es ist, und weist doch über sich hinaus, worin sich die Güte dieser kostbaren und delikaten Malerei erweist.
Eine neuere Werkserie enthüllt übrigens ab etwa 2007 die vormals betuchten Bedeutungsträger, verleiht ihnen menschliches Antlitz und bricht das reiche Ornament fast zur sporadischen Applikation herunter.

Hugo Boguslawski hat zunächst parallel zum Kunststudium an der Kunstakademie Münster an der Westfälischen Wilhelms Universität Biologie studiert und ist infolgedessen heute in seiner freien Zeit mit der Suche nach Fossilien beschäftigt. Erklärlich, dass ihn als Maler der Blick in die Landschaft, in die belebte Natur, in Flora und Fauna oder in ihre zu findenden steinernen paläontologischen, geologischen Zeugnisse antreibt. Das Erfahren, Erwandern, Ermessen und das unermüdliche, beharrliche lange visuelle Abtasten der Topographie mit den Augen, den mithin neben den Händen wichtigsten Werkzeugen des Malers, ist kontinuierliche Einübung. Ein untrügliches Gespür für feinste Farbnuancen und Formabweichungen, ein oszillierendes, zwischen Mikro- und Makrostruktur der Landschaft pendelndes Suchen des Malerblickes und ein sicheres, außerordentliches Wissen um Aufbau, Zusammenhalt, Wachstum und Komplexität der aus kleinteiligen Partikeln und Zellen der in der Natur wahrgenommenen Strukturen, legen hier ein rein malerisch konzeptuelles Gerüst zu Grunde.
Kennzeichnend ist ein großes Interesse an kleinteiligen Strukturen, die in größere Gesamtzusammenhänge eingebunden sind. So finden sich in frühen Bildern von 2003 Bildnisköpfe, auf denen die Porträtierten in Ansicht von hinten mit Blick auf kurvendes und mäanderndes Haar-Lineament dargestellt sind. Auffällig ist hier, dass der Blick sich nicht in einem Format füllenden All-Over wie im Dickicht verfängt, sondern ebenso im Randbereich der Gemälde in das atmosphärisch tiefenräumliche Blau des Hintergrundes gesogen wird. Der Blick des Malers vereint Nah- und Fernsicht, entsprechendem dem Blick für das Detail und das große Ganze.
Hierbei hilft das Lineament der Haare der Malfläche Bewegung und vermeintliche Räumlichkeit einzuschreiben. In der folgenden Serie der Sukkulenten ab 2004 wird der Spagat von Fläche zu Raum mit Hilfe der Kakteenstacheln als allgerichtetes Lineament deutlich. Eine in der Komposition zu Grunde gelegte Kugelform krümmt die imaginäre Bildfläche hin zur Allgerichtetheit, was durch die durch Stacheln eingezeichneten Richtungen noch verstärkt wird. Der malerische Bildraum wird durch die gleichzeitige Allgerichtetheit zum hierarchielosen, dezentralen Kompositionsraum. Die kostbare malerische Struktur ist überall wie ein fossiler Fund im Bildganzen entdeckbar.
In den folgenden Serien ab 2006, die Blattmotive zeigen, wird dies wiederum noch klarer. Ein vormals gegenständliches Motiv überzieht in massierter Repetition den gesamten Bildraum in der Fläche, aber auch in die Tiefe, wie z.B. in der Serie der Ginkoblätter. Das Staffeln, Verkleinern oder Verhellen und Verdunkeln zum nur vorgestellten Bildhorizont hin erzeugt Bildtiefenraum. Ferne und Nähe, Detail und Ensemble bilden eine verflochtene Einheit, die Fläche und Raum oszillierend zusammenrücken lassen. Figur und Hintergrund, Motiv und Kontext und somit Mikro- und Makrostruktur werden als gleichwertig aufgefasst. Ein Ginkoblatt grenzt an und überlagert das nächste und so weiter und sofort und es ist nicht mehr auszumachen, ob die von der Wirklichkeits- Erfahrung abgezogene, d.h. abstrahierte, ornamentale All-over Struktur in repetitiver Reihung oder das gewählte gegenständliche Motiv das primäre Bildgerüst darstellt, da sie einander bedingen. Das Ornamentale wird hier zum hierarchielosen Kompositionsprinzip und entkommt dem Dilemma Abstraktion - Figuration oder Primat der Form versus Primat des Inhalts auf drittem Weg.
Neueste Bilder, etwa orbis cineris, legen den egalisierende Blick aus einer diagonalen Luftperspektive als nivellierende Maßnahme zu Grunde. Im Gegensatz zum Apotheker von Ampurias Salvador Dalis, der nach absolut nichts sucht, entdeckt Hugo Boguslawski aus diesem Blickwinkel einen gesamten und aufs Eindrückliche höchst malerischen Kosmos.

Ivo Ringe hat an der Kunstakademie Düsseldorf studiert, zunächst Bildhauerei und Grafik, bevor er zur Malerei stieß. Sein Studium fiel in eine Zeit vor rund 40 Jahren, in der das offene Experiment, die kritische Befragung des künstlerischen Mediums und ein starkes Interesse an Innovation der Ausdrucksformen vorherrschten. So ist es nicht verwunderlich, dass sich Ivo Ringes malerischer Ansatz sehr eigenständig, aber sicher auch beeinflusst durch die ehemalige Beschäftigung mit der Bildhauerei und der Grafik darstellt. Sein Werk umfasst kleine, mittelgroße und sehr raumgreifende Arbeiten auf Leinwand. Betritt man sein Atelier, fallen die zahlreichen Behältnisse mit hunderten von mineralischen, anorganischen und organischen Pigmenten auf, die Ivo Ringe zur Selbst-Herstellung seiner Farben benutzt. Darunter finden sich viele seltene und heute nicht mehr gebräuchliche oder erhältliche und durchaus höchst wertvolle Farbmittel, die er auf Auslandsreisen entdeckte. Nicht ein vermeintlich alchemistisches Laborieren, sondern profunde Kenntnis der lange erprobten Materialien bildet ein solides technisch-handwerkliches Fundament für Ivo Ringes Malerei.
Rechteckige Bildformate weisen häufig einen monochromen oder aber zweigeteilten farbigen Fond auf, welcher mit einem Geflecht aus vorherrschend diagonal verlaufenden Pinselbahnen, die eine Binnenstruktur von aneinander geketteten Dreiecks-, Rauten- oder Trapezformen ergeben, überzogen ist. Diese netzartige Struktur verläuft in ihrer Gesamtheit entweder bis zu den Bildformatgrenzen, darüber hinaus als unendlich fortsetzbar vorstellbar, oder aber bildet eine geschlossene polygonale Form. Durch unzählige lasierend oder halbdeckend aufgetragene Farbschichtungen entsteht ein differenzierter Farbakkord, bei monochromem Fond als Farbzweiklang oder Farbdreiklang bei geteiltem Grund. Insbesondere bei großformatigen Bildern mit breitbahniger Pinselspur, die sich durch ein randloses, in der Regel dezentrales All-over Liniengerüst auszeichnen, oszilliert die Wahrnehmung gefangen in der Figur-Grund-Problematik: Halbtransparente Pinselbahnen, besonders, wenn sie einen reliefartigen, Pigment gekörnten Duktus aufweisen, werden als Spur oder Netzgeflecht vor Hintergrund identifiziert. Umgekehrt können bei breiten Pinselbahnen die oft dreieckigen Relikte des stehen gelassenen farbigen Grundes sich wie gesplitterte Sprengsel in den Vordergrund drängen.
Die geschlossenen Netzareale vor einfarbigem Grund bekommen durch ihre klare Abgegrenztheit von der Umfläche, objektartigen Charakter und assoziieren Bildvorstellungen von Kristallstruktur bis Kopfform. Die Umfläche kippt in der Wahrnehmung zum Umraum, wenn sich die geschlossene Linienstruktur besonders vor zweifarbigem Fond erhebt. Das Bild erhält stilllebenartigen Charakter.
Man ahnt die anfängliche Beschäftigung mit der Bildhauerei, die hier ihren Niederschlag gefunden hat: Zum einen gibt es in Ivo Ringes Herangehensweise den direkten Umgang mit dem Material des Malers, dem Farbmittel Pigment. Nicht das Ermischen etlicher Farb-Nuancen aus einer kleinen eingeschränkten Palette, sondern das mühselige Austarieren von Farbakkorden aus einer die hundert Töne weit übersteigenden Farb-Kohorte, gebunden an maltechnisch höchst verschieden und eigenwillig reagierende Substanzen, ist die Material bestimmte Basis dieser Malerei. Dem Material die Referenz erweisend erscheint diese Malerei auch Konzept gebunden, aber nicht ohne außerordentliche Passion für die Suche nach dem malerischen Klang. Eine Bindung an das Körperhafte geschieht über den Umgang und den entschiedenen Einsatz von Malmaterial, aber auch über die den Werken inne wohnende imaginierbare Plastizität, der jedoch rein illusionistischer Charakter zukommt. Ivo Ringes lineare Netzstrukturen verflechten malerische Fläche und malerischen Raum im rhizomatischen Ornament seiner Netzareale.
Ebenso hinterlässt die Beschäftigung mit künstlerischer Grafik eine Spur im wahrsten Sinne des Wortes. Zeichnen bedeutet im ursprünglichen Sinn, einerseits eine Spur auf einem Grund zu hinterlassen, hier dem Malgrund, andererseits eine Be-Zeichnung zu finden, eine inhaltliche Spur in der Vorstellung, um innere bildliche Anmutungen zu entfesseln. Ivo Ringe legt seinen Formaten mit ihren netzartigen, durch Linien geprägten Kompositionen ausgesuchte und bestimmte Proportionsverhältnisse zu Grunde. Was auf den ersten Blick wie eine zufällige Anordnung wirkt, ist vor dem eigentlichen Malakt als Punktraster in einem bestimmten Proportionsschema festgelegt worden. Die Richtung und die Zahl der Verbindungsbahnen bzw. Verknüpfungen erfolgt innerhalb dieses Planes jedoch rein intuitiv aus dem Augenblick des Malens heraus.
Zeichnung wird farbige Spur, deren Titelgebung hilft, dem Bezeichneten auf die Spur zu kommen. Titel assoziieren vielfältige Bildinhalte, historische, gesellschaftliche und persönliche, sind aber nicht der alleinige Gegenstand von Ivo Ringes Malerei, sondern imaginativ mit in das Ornament verwoben. Das intuitive Agieren im Malakt und die imaginierende Titelgebung binden die zeitliche Dimension mit an. Ivo Ringes lineare Netzstrukturen verflechten Fläche, Raum und Zeit in seiner Malerei und lassen dieses ambivalente lineare Geflecht zum eigentlichen Bildmotiv werden.
Es ist das proportionierte Ornament, welches als ursprünglich vorsprachliches Bildzeichen mit "geplanter Zufälligkeit" immer wieder neu formuliert wird. Man ist versucht, hier eine Analogie zur komplexen Verknüpfungsleistung des menschlichen Gehirns im Vollzug seines in assoziativen Ketten vernetzten Denkens hinein zu lesen. Das Ornament gerät Ivo Ringe als vorsprachlicher Informationsträger zum archaisch piktographischen Bildzeichen. Piktogramme zeichnen sich eigentlich als internationale und interkulturell einfach und direkt verständliche Visualisierungssysteme aus, die komplexe Informationen übersprachlich vermitteln sollen, womit die in der Einleitung aufgeworfene Fragestellung, ob archaischen Ornamentsystemen existentiell wichtige Information vermittelnde Funktion zukommen kann, wieder erreicht worden ist.

Andreas Moersener

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